Ist die Traditionelle Volksmusik ein Mythos?
von Margaret Engeler, Zürich
Keine Musiksparte hat so grosse Verkaufszahlen wie die Volksmusik, keine wurde wie sie immer wieder für ideologische Zwecke eingesetzt und keine Musikgattung wie die Volksmusik wurde jahrelang von der Musikwissenschaft mit mehr Herablassung bedacht. Und doch lebt die Volksmusik weiter, ist stolzer Teil schweizerischen Selbstverständnisses und wird von ernstzunehmenden Musikern mit Liebe und Sachverstand gepflegt. Die Gratwanderung zwischen dem Mythos der urtümlichen, aus der Volksseele entspringende Musik und der unbekümmerten Vereinnahme durch Tourismus, Werbung und Medien hat bei der Appenzeller Volksmusik schon im 18.Jahrhundert begonnen. Wie hat sich dies im Laufe der Zeit auf den Lebensstil der Musiker, der Hörerwartung des Publikums und die Substanz der Musik ausgewirkt?
Ich will in diesem Artikel die angesprochene Wechselwirkung zwischen Kommerz und Mythen deutlich machen. Die wichtigste Erkenntnis dabei ist, dass die gängigen Mythen über die Volksmusik die ausschlaggebende Kommunikationsebene zwischen Musikern und Publikum liefert, und dass die Verwerter sich genau in diese Kommunikationsebene einschalten.
Was verstehe ich hier unter "Mythos"? Ich schlisse mich dem Sprachgebrauch an, der vor allem journalistisch in den verschiedensten Zusammenhängen verwendet wird: "Mythos Kindheitstrauma", "der wirkungsmächtige Mythos Pestalozzis", etc.
Mythen geben sich als Darstellungen objektiver Sachverhalte. Ihre Wirkung beruht auf ihrer Uebereinstimmung mit bereits vorhandenen Konzeptionen und Wunschdenken in einem ganz spezifischen kulturellen Umfeld, der kollektiven Alltags- und Daseinsgestaltung der Musiker und ihres Publikums.
Zuerst spreche ich also vom Volksmusik-Publikum, dann von den Musikern und schliesslich von den Verwerten; immer in Bezug auf die Rolle der Mythen.
Aneignung des Mythos "Urtümlichkeit / Sennentum / Zigunerabstammung"
I. Volksmusik-Publikum
II. Volksmusiker / Volksmusik
III. Verwerter
Nun zuerst zum Volksmusik-Publikum.
Dieses kann heutzutage nicht mehr nach den Kriterien der sozialen Schicht, des Bildungsgrades, des Alters oder des Wohnsitzes identifiziert werden. In meinem Artikel habe ich einen anderen Zugang versucht, nämlich die Differenzierung nach der Rezeption der Mythen um die Appenzeller Volksmusik, Es lassen sich zwei Kategorien unterscheiden, die ich Volksmusik-Freunde, resp. Volksmusik-Konmsumenten nenne.
Volksmusik-Freunde bilden das kritische, an Volksmusik als Kulturgut interessierte Publikum.
Die Volksmusik-Konsumenten sind unkritisch und suchen das erlebnishafte Eintauchen in die mythische Welt, welche die Volksmusik begleitet.
Die Volksmusik-Freunde sind Individuen, die sich in die Volksmusik-Szene voll integrieren. Sie sind motiviert durch das Bedürfnis der Bestätigung ihrer kulturellen Identität. Dieses Bedürfnis ist besonders stark zu Zeiten einer kulturpolitischen Herausforderung der angestammten Lebenswelt. Die Volksmusik-Freunde schliessen sich zu Interessengruppen und -Verbänden, Hörer-Gemeinschaften, Jodlerverbänden, Trachtengruppen, Volkstanzgruppen etc. zusammen. Solche Gruppierungen beruhen auf dem Prinzip des individuell bestimmten aktiven Teilhabens. Für die Volksmusik-Freunde bildet die Hinwendung zur Volksmusik einen Teil ihres alltäglichen Lebensstils. Sie sind deshalb aktiv interessiert an ihrer Gestalt und Qualität (Kurse in Schulen und Konservatorien z.B.).
Anderers sind die Volksmusik-Konsumenten. Sie sind naschhaft und suchen das Leichtverständliche und Eingängige, sowie die Mitteilbarkeit als Freizeiterlebnis.
Volksmusik ist im allgemeinen geprägt von den sie begleitenden Mythen. Diese sind von der breiten Masse unreflektiert akzeptiert. Darum eignen sich Mythen besonders gut, um der Rezeption der Volksmusik den Weg zu ebnen. So sind also für die Volksmusik-Konsumenten die Mythen als Kommunikationsebene fraglos und ohne zusätzlichen Aufwand vorgegeben.
Die Verwerter der Volksmusik wenden sich vor allem an dieses Publikum. Schon im 18.Jahrhundert zeigte es sich, dass die Verwendung des Mythos einer uralten Tradition äusserst nützlich sein kann. Auch heute präsentieren die Verwerter die Volksmusik immer im Zusammenhang mit dem Inhalt des Mythos: das Sennische, die Alpenwelt, die Urchigkeit der Landbevölkerung und ihres bodenständigen Dialektes, die farbenprächtig Sennentracht etc. Die Mystifizierung versimpelt das Verstehenskonzept des Verwerters und folglich auch des Publikums.Die Präsentation der Volksmusik soll ja möglichst viele Teilnehmer anziehen, sie nimmt die Form einer Show an. Diese darf das Publikum sprachlich nicht überfordern, aber eben auch nicht langweilen. (S. 1410) Sprachlich setzt man auf die Dialektwelle, alle werden geduzt. Musikalisch werden banale Texte zu melodisch trivialen schlagerartigen Melodien bevorzugt, kurze Wiederholungen von Phrasen, die an Wohlbekanntes anklingen. Ausserdem sind heimatliche Kulissen mit Sennhütten, Blumen, stilisierten Trachten vonnöten. Insbesondere aber braucht es einen Conférencier, der die unaufhörliche Abfolge von Nummern dirigiert und kommentiert. Die Rezeption einer solchen Mythologie-Verwertung lässt sich immer wieder belegen, z.B. in der folgenden Rezension des Nordostschweizerischen Jodlerfestes in Dietikon: "Der urtümliche Ruf des Sennen vom Berge fand auch in den städtischen Häuserfluchten ein Echo. Fremd, fast schaurig schön, verhallen die Klänge vom Berg an den dunkeln Fenstern der städtischen Mietshäuser. So müsste es wohl sein: Das Zelebrieren der Urschweiz darf in guten Treuen auf die Seele drücken". (Ende Zitat)
Der unbestreitbare Erfolg der Verwendung von Mythen als Kommunikationsbasis hat aber auch interessante Rückwirkungen auf die Volksmusiker und ihre Musik. Während bei den Volksmusik-Konsumenten die unmittelbar Verständlichkeit, ja das beinahe Archetypische der Mythen im Vordergrund steht, ist es bei den Volksmusikern und auch bei den Volksmusik-Freunden etwas anderes: Für sie vermittelt der Mythos einen wesentlichen Teil ihres Selbstverständnisses, ist Teil ihrer Identität.
Als Feldforscherin bin ich dieser Tatsache verschiedentlich begegnet. Ich gehe hier aber nicht näher auf das Problem der pespektive ein, wie weit sich das Selbstverständnis oder die Identitätssuche des Appenzeller Volksmusikers und meinem sog. Fremdverstehen deckt Am deutlichsten waren die Reaktionen des Appenzeller Streichmusikers auf die Konfrontation zwischen den Mythen gemäss alltagskulturellen Selbstverständnisses der Volksmusiker und meiner objektiven, wissenschaftlichen Sicht, z.B. bezeichnete ich in meinem Artikel die Schaustellung von Tracht, Appenzeller Dialekt, Gebrauch des Alphornes und Schautänzen (Möhlirad und Hierig) als überspitzt. Auf diese Aussage reagierte ein Appenzelle Volksmusik, der auch Lokalredaktor ist, sehr hellhörig. Er fragte, woran ich denn die Ueberspitztheit zu erkennen glaubte, denn er fühlte sich in seinem Selbstverständnis, nämlich der Verwendung dieses Topos auch ausserhalb des Kantons Appenzell (Korea USA etc.) angegriffen. Ich musste präzisieren und den Unterschied zu den von mir gemeinten Schaustellungen ausserhalb des Alltags und der Region der Musiker klar machen. Ein zweiter Stein des Anstosses waren meine Bemerkungen zum journalistischen Vokabular (S. 143). In seinem Interview für die Appenzeller Zeitung fragte er mich folgendes:
"Du hälst fest, dass das Vokabular der Volksmusikberichterstatter standardisiert sei. Worin unterscheidet sich denn diese Standardisierung von anderen, beispielsweise den Durchschnittsjournalisten, die sich mit Pop, Rock oder E-Musik befassen?"
Darauf antwortet ich ihm wie folgt:
"Volksmusik-Berichterstattung ist oft verniedlichend, in künstlich wirkender volksnaher Sprache und verwendet ein einfach verständliches, dialektgefärbtes Vokabular. Beim Pop ist die Sprache geprägt von deutschen und amerikanischen saloppen Fernsehjournalismus, beim Jazz ist sie eher dem E-Musik-Vokabular angleichend".
Es haben also alle Musikgattungen ein spezialisiertes Interesse von Kennern aber eben auch ein allgemeines Publikumsinteresse zu befriedigen.
Die Appenzeller Volksmusiker (Streichmusiker) stehen im Fokus von allen möglichen Interessenten: am sanftesten sind die Volkskundler wie ich, aber es gibt viel aggressivere Volksmusik-Interessenten: Journalisten und Fernsehmacher, welche das Selbstverständnis der Volksmusiker herausfordern. Auf die abgedroschene Frage: Was ist urchig? Ist Appenzeller Volksmusik "echt" und "unverfälscht"? haben die meisten Volksmusiker denn auch ihre standardisierten Antworten. Sie bewegen sich im Umfeld des in Mythen gefassten kulturellen Gedächtnisses. Eine Infragestellung dieses Mythenbewusstseins wird als Unkenntnis belächelt. Die Appenzeller wollen aber auch durch die Mystifizierung ihrer Volksmusik ihr Allagsleben in gewissem Masse als Geheimnis bewahren.
Die eigentliche Herausforderung an die Appenzeller Volksmusiker aber kommt aus zwei zueinander komplementären Richtungen, erstens der Zwang zur Schaffung und Erhaltung der Identität, und zweitens der Zwang zur Marktkonformität. Auf den ersten Zwang, der sich im wesentlichen als Tendenz zur Erhaltung traditioneller Strukturen auswirkt, bin ich bereits etwas eingegangen. Nun möchte ich noch vom Einfluss des Marktes sprechen.
In den letzten Jahren hat der relative Bekanntheitsgrad der Appenzeller Streichmusik nachweisbar abgenommen: etwa bei der Anzahl Aufführungen gemäss den publizierten Volksmusik-Veranstaltungskalendern, bei Darstellungen in Spartenzeitschriften wie die "Schweiz.Musiker Revue" oder bei Auftritten an Fernsehshows. Deutlich zugenommen hat in dieser Hinsicht die Innerschweizer Ländler-Musik. Sicher ist dieser Wechsel mindestens zum Teil Ausdruck einer gewissen Publikums-Ermüdung: Die Appenzeller Streichmusik wurde über viele Jahre sozusagen als Emblem der schweiz. Volksmusik verstanden und vermarktet. Die Verwerter haben den Eindruck, dieser Topos sei bekannt und suchen nach etwas Neuem, leicht verständlichen und ebenfalls mythisch-unterlegt Eingängigem. Der grosse Erfolg für die Verwerter entsteht heute im Umfeld derjenigen Volksmusik die man z.B. im "Musikantenstadel" des fernsehens zu sehen bekommt: volkstümliche Schlager, Schunkelmusik, Oberkrainer, etc.
Durch diese Konkurrenz sind die Appenzeller Streichmusiker herausgefordert. Trotz des grossen Erfolges der folkloristischen Volksmusik und des folkstümlichen Schlagers, möchten die Appenzeller aber keinesfalls zu dieser Klasse der Volksmusiker gehören. Die Appenzeller Streichmusik distanziert sich von der stark basslastigen und rhythmusgeprägten volkstümlichen Ländler oder Schlager-Musik. Sie möchte viel eher die Professionalität in den Vordergrund stellen: das durch die Streichinstrumentation geforderte technische Können, die Virtuosität beim Hackbrett und die Nähe zur gehobenen Unterhaltungsmusik bis hin zum Quartett und Quintett der E-Musik. Um mit dieser Tendenz Erfolg zu haben sind heutzutage Innovationen gefordert.
Innovativ nenne ich etwas, das nicht nur eine vorübergehende Veränderung oder Ergänzung darstellt, sondern sich auch nach einigen Jahren als natürlich integrierter Bestandteil der Volksmusik erweist. Innovationsbeispiele bei der Appenzeller Volksmusik sind etwa: die Selbstverständlichkeit des vermehrten Gebrauchs von Klavier und Handorgel. Fragliche Innovationen sind die Verwendung der neu hinzugekommenen Rhythmusinstrumente wie Chlefeli und die Benutzung des Dudelsacks. Diese Instrumente, wie auch das Alphorn, sind zwar traditionelle Volksmusik-Instrumente, sind aber in der Appenzeller Volksmusik bis vor einigen Jahren nicht aufgetreten. Dagegen stellt z.B. das Repertoire der Formation "Space-Schöttl" eine echte Innovation innerhalb der Appenzeller Streichmusik dar; sie wird auch als solche z.B. bei der Swissair vermarktet. Ihr Sound ist eindeutig verschieden von der traditionellen Appenzeller Streichmusik, basiert aber meistens auf derselben Instrumentation. Die Space Schöttl wurden auch in traditionellem Gasthaus bei Brauchtumsanlässen akzeptiert, etwa beim Aufspielen nach der Innerrhoder Landsgemeinde.
Der Innovation eher abträglich sind pädagogische Bestrebungen, einseitiges Erlernen von Volksmusikinstrumenten nach schriftlicher Anleitung. So haben z.B. Uli Alder, Uli Mooser und andere verschiedene Bass- und Geigenlehrgänge für Volksmusik publiziert; Volksmusik ist ebenfalls in die Lehrgänge von Konservatorien aufgenommen worden, im besonderen in Oesterreich. Historisch hat die Appenzeller Streichmusik schon einmal eine solche Fixierung erlebt, durch Alfred Tobler um die Jahrhundertwende. Diese hat sich in gewisser Hinsicht auch negativ ausgewirkt: sie führte zu einer Stagnation, weil sie die Tradition festschrieb, wenig innovativ wirkte und so die Volksmusik eigentlich manipulierte.
Ich hoffe, aus dem Gesagten sei eines deutlich geworden: Die Volkskunde muss sich über die mythengeprägte Kommunikationsebene herausheben, auch wenn die Gewährspersonen sich mit Vorliebe darin bewegen. Sie muss in vermehrtem Mass den Mythosbezug objektivieren und in den aktuellen gesellschaftlichen Kontext einbinden. Volkskunde ist ja die Erfahrungswissenschaft der alltagskulturellen Selbstverständlichkeiten. Auf diese Weise nur erhält die Volksmusik einen tieferen Einblick in die interessanten Mechanismen, die in ihr wirksam sind.