Mit Mathematik kosmische Rätsel lösen

Die Entstehung der Sterne erforschen oder mit neuen Halbleitern Energie sparen: Die mathematischen Konzepte, die Svitlana Mayboroda entwickelt, lassen sich vielfältig anwenden. Doch das Ziel der Wissenschaftlerin ist, mathematische Theoreme zu beweisen und damit unser Wissen zu erweitern.

Svitlana Mayboroda
Svitlana Mayboroda: «Ich selbst mache weder Physik noch Berechnungen. Ich beweise mathematische Theoreme.» (Foto: Alessandro Della Bella)

Die Bilder der modernen Riesenteleskope faszinieren Laien und Forschende. «Die Prozesse, die dort draussen stattfinden, erstrecken sich über unvorstellbare Skalen», sagt Svitlana Mayboroda, die seit dem 1. August 2023 als ordentliche Professorin am Departement tätig ist. Als Beispiel nennt sie den Orionnebel, eine molekulare Gaswolke, in der neue Sterne geboren werden. Das James-Webb-Weltraumteleskop liefert detaillierte Bilder von den Strukturen im Orionnebel. «Eine immense Leistung der modernen Technologie», sagt Mayboroda: «Aber ehrlich gesagt wissen wir nicht, was wir mit diesen Bildern anfangen sollen, denn sie zeigen einfach unglaublich komplizierte geometrische Objekte.»

Trotz der grossen Rechenleistung moderner Computer lässt sich nicht berechnen, was sich im Universum genau abspielt. «Man muss wissen, womit man den Computer füttern soll, bevor er etwas für uns tun kann», erklärt Mayboroda: «Dazu braucht es die Mathematik. Denn sie ist - wie Galileo Galilei es formulierte – die Sprache der Natur.» Dabei tauchen erstaunlicherweise immer wieder dieselben mathematischen Probleme auf. Mayboroda vergleicht die Bilder der kosmischen Gaswolken mit einer Feuerfront auf der Erde. Als Mensch erkennt man, dass auf einem Bild ein Feuer zu sehen ist. «Doch was bestimmt mathematisch, dass ein Feuer wie ein Feuer aussieht?» fragt die Wissenschaftlerin: «Und können Sie angeben, was bei welcher Temperatur und wie lange brennt, wenn Sie einige mathematischen Eigenschaften bestimmen könnten?»

Orionnebel im kurzwelligen Kanal von NIRCam
Trotz der grossen Rechenleistung moderner Computer lässt sich nicht berechnen, was sich im Universum genau abspielt. «Man muss wissen, womit man den Computer füttern soll, bevor er etwas für uns tun kann», erklärt Mayboroda. (Orion Nebula und Trapezium Cluster: NASA, ESA, CSA / Science leads and image processing: M. McCaughrean, S. Pearson)

In Zusammenarbeit mit Astrophysikern will Mayboroda herausfinden, was hinter den komplizierten, kosmischen Objekten steckt. «Wir untersuchen, ob bestimmte semantische Merkmale dieser geometrischen Objekte über viele Bilder und Skalen hinweg immer wieder vorkommen und ob diese Merkmale tatsächlich beschreiben, was dort oben passiert», erklärt die Mathematikerin: «Wir wollen herausfinden, ob wir eine mathematische Theorie entwickeln können, die Messungen ermöglicht, mit deren Hilfe wir die Struktur und Dynamik des Universums verstehen können. Gibt es Merkmale, die Turbulenzen beschreiben und Aufschluss geben, wie in solchen Wolken Sterne entstehen?» Dies sei eine völlig neue Herausforderung, die mit einigen berüchtigten, offenen Problemen der geometrischen Masstheorie, der Minimierung und der Variationsrechnung zusammenhängen, erklärt Mayboroda: «Es ist aber auch eine spannende, reichhaltige neue Welt.»

Svitlana Mayboroda
«Wir wollen herausfinden, ob wir eine mathematische Theorie entwickeln können, die Messungen ermöglicht, mit deren Hilfe wir die Struktur und Dynamik des Universums verstehen können.»
Svitlana Mayboroda
Svitlana Mayboroda

Wie eine grosse Explosion im Kopf

Doch sie betont: «Ich selbst mache weder Physik noch Berechnungen. Ich beweise mathematische Theoreme.» Ihre Gebiete sind neben der geometrischen Masstheorie, partielle Differentialgleichungen und Analysis. Ihr Antrieb ist die Neugier, doch oft ist das Unterfangen schwierig und frustrierend. Man glaube, nahe an einer Lösung zu sein, nur um kurz später zu merken, dass etwas nicht stimme. «Doch mit zunehmender Erfahrung bekommt man ein Gefühl dafür, wenn etwas richtig riecht, sodass man nicht mehr so entmutigt ist.» Und die Freude, wenn man ein Puzzle geknackt habe, sei jedes Mal erstaunlich: «Es fühlt sich an wie kleine, prickelnde Blasen im Kopf und manchmal wie eine grosse Explosion.»

Nervenkitzel sucht die Mathematikerin offenbar auch in ihrer Freizeit. Sie betreibt schon lange Tuchakrobatik, auch Aerial Silk genannt. «Das ist ein Gerät wie ein Trapez oder ein Luftring und viele andere solche Vorrichtungen», erklärt sie. «Es ist etwas zwischen Gymnastik, Klettern und Fallenlassen.» Oft benutzte sie dazu die Infrastruktur eines Zirkus. Zurzeit trainiert sie im Akademischen Sportverband Zürich (ASVZ), der Tuchakrobatik in seinem Programm anbietet.

Für ihre Arbeit erhielt Mayboroda zahlreiche, internationale Auszeichnungen. Dabei war ihre Karriere als Mathematikerin keineswegs vorgezeichnet. Geboren in Kharkiv im Osten der Ukraine interessierte sie sich in der dortigen Schule für verschiedenste Fächer. An der Universität studierte sie neben Mathematik auch Wirtschaftswissenschaften. Das Angebot, in den USA eine Doktorarbeit in Mathematik anzupacken, betrachtete sie als Abenteuer, das ihr die Möglichkeit gab, eine neue Welt kennenzulernen. Fast zwanzig Jahre lang lebte sie in den USA und arbeitete in den letzten 13 Jahren als Mathematik-Professorin an der Universität von Minnesota, bis sie 2023 an die ETH berufen wurde.

«Es war wieder eine Chance, eine andere Welt kennenzulernen, neue Leute, ein anderer Lebensstil, eine andere mathematische Umgebung hier in Europa», erklärt Mayboroda. So heiter sie wirkt, wenn sie über ihre Arbeit spricht, so traurig wird sie, angesprochen auf die Situation in der Ukraine: «Mein Vater lebt in Kharkiv. Es ist seine Heimat, Krieg hin oder her. Aber je weiter die Ereignisse voranschreiten, desto schwieriger wird es. Es ist eine grosse Tragödie und ich versuche zu helfen, so gut ich kann. Das tun wir alle in kleinerem und grösserem Massstab.»

Eine Landschaft aus Sicht der Wellen

Ihre bisher am meisten beachteten Arbeiten behandelten das Thema Wellen und deren Verhalten. Wellen sind in unserer Welt allgegenwärtig beispielsweise als Wasser- oder Schallwellen. Vom Standpunkt der Quantenmechanik aus gesehen, hat sogar die Materie auf atomarer Ebene einen wellenförmigen Charakter. «Einer der Schwerpunkte meiner Forschung in den letzten Jahren waren Wellen und Unordnung», erklärt die Mathematikerin: «Denn auf mikroskopischer Ebene haben die meisten Materialien Defekte oder inhärente Unregelmässigkeiten, und diese können bewirken, dass sich Wellen völlig anders verhalten, als dies die klassische Physik bei periodischen Gitterstrukturen voraussagt.» So können Wellen plötzlich auf einen sehr kleinen Teil ihres ursprünglichen Bereichs beschränkt sein, obwohl nichts Sichtbares die Ausbreitung zu verhindern scheint – wie ein Tsunami, der in der Mitte des Ozeans zum Stillstand kommt.

Svitlana Mayboroda
«Stellen Sie sich eine Berglandschaft vor, durch die man gehen muss. Eine Welle sieht das Gebiet etwas anders als Sie. Die Welle kann über manche Flüsse springen, über die man nicht gehen kann, dafür lässt sie sich nicht in beliebig enge Passagen zwängen.»
Svitlana Mayboroda
Svitlana Mayboroda

Man bezeichnet dieses Phänomen als Lokalisierung der Wellen. Obwohl bereits in den 1950er Jahren entdeckt, erwies es sich als äusserst schwierig, den Mechanismus der Lokalisierung zu verstehen. Ein wichtiger Durchbruch gelang mit einem neuen mathematischen Werkzeug, das Mayboroda und ihre Kollegen entdeckten. «Es handelt sich um eine Landschaft der Lokalisierung, die das Material aus der Sicht der Welle zeigt», erklärt die Mathematikerin: «Stellen Sie sich eine Berglandschaft vor, durch die man gehen muss. Eine Welle sieht das Gebiet etwas anders als Sie. Die Welle kann über manche Flüsse springen, über die man nicht gehen kann, dafür lässt sie sich nicht in beliebig enge Passagen zwängen.» Mit dieser Landschaftstheorie der Lokalisierung gelingt es, die geometrischen Eigenschaften und die Energie der lokalisierten Wellen vorherzusagen.

Mit der Landschaftstheorie kann man aber nicht nur Lokalisierungseffekte verstehen, sie lässt sich auch direkt anwenden, um neue Materialien und bessere elektronische Bauteile zu entwickeln. So ermöglicht dieses mathematische Werkzeug beispielsweise Quantensimulationen von LEDs, was eine gezielte Verbesserung dieser energiesparenden Lichtquellen erlaubt. Und sie hilft bei der Entwicklung effizienter, organischer Halbleiter für Solarzellen und Fotodetektoren, die beispielsweise in den Smartphones stecken. «Ich hatte grosses Glück, dass unser Konzept so schnell Anwendungen in der Physik und zur Entwicklung neuer Bauteile fand», sagt Mayboroda.

Einführungsvorlesung von Svitlana Mayboroda

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