Die ersten Jahrzehnte
Mathematik als Hilfswissenschaft
Das Eidgenössische Polytechnikum wurde 1855 mit der Absicht gegründet, für die aufstrebende Industrie des jungen Bundesstaates Fachleute und Ingenieure auszubilden: Man betrachtete das Polytechnikum als Schule; so gab es beispielsweise anfänglich keine Professoren, sondern (Haupt-)Lehrer und diese unterrichteten Schüler und keine Studenten. Die Mathematik stand somit anfänglich nicht im Zentrum dieser Bestrebungen, sondern sie spielte die Rolle einer reinen Hilfswissenschaft und ihre Dozenten sollten der Praxis wenn möglich nahestehen.
Die Mathematik war zusammen mit der Physik und den anderen Naturwissenschaften in der philosophischen und staatswissenschaftlichen Abteilung VI beheimatet. Im Vordergrund stand der Unterricht für Ingenieure; daneben wurden auch Mathematiklehrpersonen für die vorbereitenden Schulen ausgebildet, um längerfristig das Niveau der eintretenden Studierenden
anzuheben.
Stellenwert der Mathematik steigt
Der Stellenwert der Mathematik am Polytechnikum änderte sich, als Johann Karl Kappeler (1816-1888, im Amt 1857-1888) Präsident des Schweizerischen Schulrates wurde (heute ETH Rat). Kappeler erkannte, wie wichtig eine breite theoretische Grundlage (insbesondere in Mathematik und Physik) für die Ingenieurfächer war. Deshalb legte er bei Neubesetzungen grossen Wert auf die wissenschaftliche Qualität der Kandidaten. Im Fach Mathematik konnte er für das Polytechnikum in der Folge mehrfach junge vielversprechende Mathematiker aus Deutschland gewinnen.
So stellte Kappeler beispielsweise auf den Ratschlag von Peter Gustav Lejeune Dirichlet, Richard Dedekind (1831–1916, im Amt 1858-1862) ein. Dieser betreute dann jährlich die umfangreiche Einführungsvorlesung in Differential- und Integralrechnung. Dedekind war der erste einer ganzen Reihe junger deutscher Mathematiker, die ihre Karriere am Eidgenössischen Polytechnikum begannen und die später in Deutschland einflussreiche Professuren übernahmen.
Die Mathematik als selbstständige Wissenschaft
Nachfolger von Dedekind wurde Elwin Bruno Christoffel (1829-1900, im Amt 1862-1869). Mit Unterstützung des Schulratspräsidenten Kappeler führte Christoffel am Polytechnikum ein Mathematisches Seminar ein, in dessen Rahmen die Mathematik als selbständige Wissenschaft gepflegt werden sollte, ganz unabhängig von möglichen Anwendungen in Ingenieurwissenschaften. Dies bildete Teil einer Neuausrichtung der VI. Abteilung, die nun die neue Bezeichnung Abteilung für Fachlehrer in Mathematik und Naturwissenschaften erhielt.
Die Liste prominenter Mathematiker am Eidgenössischen Polytechnikum setzt sich fort mit Emil Prym, Hermann Amandus Schwarz, Heinrich Weber, Georg Ferdinand Frobenius (1849- 1917, im Amt 1875-1892) und Friedrich Hermann Schottky. Während eines Grossteils seiner Zeit in Zürich war Frobenius Vorstand der Mathematischen Sektion, der VI. Abteilung. Sein Weggang nach Berlin im Jahre 1892 war für das Polytechnikum ein grosser Verlust. Der Schulrat hielt bei dieser Gelegenheit im Protokoll denn auch fest, Frobenius habe während seiner 17-jährigen Tätigkeit wesentlich zur Befestigung und Erhöhung des wissenschaftlichen Rufes des Eidgenössischen Polytechnikums beigetragen.